Zuschauerkritik der Premiere "Das große Massakerspiel“
01. Juni 2016
Noch vor dem offiziellen Beginn der Aufführung am Samstagabend, 1.7. um 20 Uhr, war schon auf dem Flur die rheinisch klingende Stimme des Siegburger Bürgermeisters Franz Huhn zu vernehmen. Es schien um etwas Ernstes zu gehen, so seine Tonlage. Und tatsächlich: die Lüftungs- und Notausgangstür stand immer noch weit offen, die Zuschauenden suchten ihre Plätze, da verlas Huhn bereits seine beunruhigende Botschaft, als Video auf die Bühnenwand geworfen: „Eine geheimnisvolle, höchst besorgniserregende und unbekannte Seuche geht um, täglich sterben massenhaft Menschen. Bleibt zu Hause und verriegelt Türen und Fenster, mehr kann im Moment nicht getan werden!“ so der bürgermeisterliche, sorgfältig verlesene Appell.
Währenddessen begann aus einer an der Decke der Bühne angebrachten Düse unablässig dickblasiger Schaum zu rinnen, der die Darstellerinnen und Darsteller innerhalb kurzer Zeit gnadenlos bis zum Oberkörper umwaberte. Es war kein Trockenschaum – ich hab kurz hineingefasst: dieser Schaum war nass, nass und kalt! Und darin, abgetrennt vom Zuschauer- und Eintrittsbereich durch transparente Folie, spielten die Schauspieler 90 Minuten ohne Trockenpause und Erholung. Allein diese Tatsache ist so außerordentlich, dass es fast schon gereicht hätte für einen ungewöhnlichen Theaterabend. Aber selbstverständlich kam noch mehr:
Die Schauspielgruppe agierte nach Ionescos Vorgabe musterhaft. Am Anfang stellt sie die Fragen: Was kann das für eine Gefahr sein? Gefahr für wen? Warum? Woher kommt sie, wer hat sie gebracht? Ist es eine Seuche? Ist sie ansteckend? Handelt es sich womöglich um eine Gottesstrafe für die gesamte Menschheit? Unbedarftheit, Ungläubigkeit und Naivität prägen die Gesichter. Die nächsten Entwicklungsstufen sind die Fragen nach den Schuldigen (Die Armen? Die Reichen? Die Regierung?), die Möglichkeit des Entkommens, der Rettung („Komm mir nicht zu nahe! Dichtet das Haus ab!“) und die eigene Haltung zu dem Geschehen („Manchmal muss man eben mal egoistisch sein – in Ausnahmesituationen wie diesen!“). Kann Verdrängung helfen, kann Mutterliebe retten? Ist die Liebe zwischen Mann und Frau das Mittel des Entkommens? Wenn nichts hilft, welche Methoden des kurzfristigen Überlebens sind dann zu tolerieren? Kannibalismus etwa?
Eine sonderbare Expertenrunde versucht gar nicht erst, das Phänomen des Todes zu ergründen. Lediglich ein unentwegt leise vor sich hin brabbelnder Fachmann (hier ist es eine Frau) beharrt darauf, dass der Tod unumgänglich und das natürliche Ende des Lebens ist. Wer hört auf ihn? Selbstverständlich niemand – das kennt man.
Während des gesamten Stückes verschwinden Menschen im Schaum, weil sie gestorben oder weil sie abgehauen sind (was nichts nützt) – sie tauchen wieder auf als andere, neu Hinzugekommene, sie lieben, flehen, fliehen und morden, sie sterben laut oder leise, verschwinden diskret oder klatschen laut auf den nassen Boden. Manche kauern sich ängstlich und ermattet in die Ecken, nur schemenhaft erkennbar, andere tanzen mit Schaum am ganzen Körper. Ein weichgezeichneter Todestanz. Entgehen wird dem Massaker niemand.
Wir kategorisieren Stücke von Ionesco als „absurdes Theater“. Interessant ist der Fakt, dass alles, was hier dargestellt wird, alles andere als absurd ist. Menschen wollen nicht sterben – aber sie tun es, unabdingbar. Menschen wollen nicht schuld sein – aber sie sind es immer und immer wieder, unabhängig von ihrer Absicht und ihrem zuweilen guten Willen. Aus dieser Misere versuchen sie herauszukommen, u.a. indem sie sich gegenseitig die Verantwortung in die Schuhe schieben. Die Aufzählung der klassischen Verhaltens- und Verdrängungsmuster kann ewig fortgeschrieben werden. Wir alle kennen sie und bedienen uns ihrer.
Wesentlich ist, wie diese menschlichen Grundmuster dargestellt werden können. Mit dem Dichter Ionesco hat sich ein großartiger Künstler des Themas angenommen, und mit der Theatergruppe unter Leitung von R. Böttcher ist dieses Thema mindestens ebenso großartig umgesetzt und präsentiert worden. Eine absurde Gesellschaft erfordert absurdes Theater zu ihrer Entblößung.
Ein ganz großer Abend! Ein grandioses Erlebnis!
PS: Warum der Schaum? Ich habe für mich folgende Erklärung: Schaum als Zutat zu ausgelassenen Partys unter jungen Leuten (im Stück als Symbol für die Naivität und Sorglosigkeit der Menschen vor dem Beginn der Seuche). Schaum als Weichzeichner harter Realitäten, als Verharmloser, aber auch als Gleichmacher. Individualität ist im Schaumbad nicht mehr auszumachen. Am Ende sind ja alle gleich. Eine erschreckende Assoziation zu den mörderischen Gasleitungen in KZ-Vernichtungslagern kam mir ebenfalls in den Sinn. Ob es so gemeint ist, weiß ich nicht. Ist aber auch nicht so wichtig, weil ich ja selbst für mich mit diesem Theaterabend zurechtkommen muss.
Siggi Richter