Zuschauerkritik der Premiere "Woyzeck“
03. Februar 2017
Ein Bühnenklassiker in deutschen Theatern seit gut hundert Jahren. Georg Büchner (1813 – 1837) hinterließ das Sozial-Drama als Fragment – sein eigener Tod kam fast schneller als der seines traurigen Helden Woyzeck. Wer ist Franz Woyzeck?
Der armselige Soldat Woyzeck liebt Marie, sie haben zusammen ein kleines Kind, sind nicht verheiratet und leiden Not. Neben seinem kargen Sold versucht er, ein paar Groschen dazu zu verdienen, indem er einem obskuren Arzt für schaurige Experimente zur Verfügung steht. Körperliche „Ertüchtigung“ bis zur Todesgrenze stehen ebenso auf dessen Programm wie eine wochenlange „Erbsendiät“, die zwangsweise bis zum „Erbrechen“ durchgeführt wird.
Für seinen vorgesetzten Hauptmann ist dieser Franz Woyzeck nichts als ein erbärmlicher Knecht und Wicht, unmoralisch (wegen der „wilden Ehe“) und schwach, den er physisch wie psychisch bis zur völligen Selbstaufgabe misshandelt, bloßstellt und demütigt.
Auch Maries Liebe zu ihm, so es sie jemals gab, hat sich verflüchtigt; sie poussiert mit dem Tambourmajor; Franz‘ Unglück wird beim Anblick der tanzenden Marie mit dem feschen Musiksoldaten grenzenlos. Er glaubt, Stimmen zu hören, schizophrene Störungen geben ihm ein, Marie zu töten, vielleicht auch sich selbst – in seinem Kopf dreht sich alles. Er tötet seine Liebe, die Mutter seines Kindes, am Ende mit einem Messer, das ist billiger als die ursprünglich gewollte Pistole, solch ein Messer kann er sich gerade noch leisten.
Was hat die Regisseurin, Sarah Kortmann, Gastkünstlerin aus Frankfurt, aus diesem Klassiker gemacht?
Die Grundstruktur, den (blut)roten Faden des Dramas hat sie beibehalten: Was passiert, wenn eine malträtierte Seele ohne jede Hoffnung, am Ende ihrer Kraft und bar jeder Vernunft nur noch zuschlagen kann? Dann passiert eben das größte Unglück, das zwischen Menschen möglich ist: einer tötet den anderen, seit Kain und Abel das Drama, die Sünde biblischen Musters.
Die Regisseurin hat sich beim Erzählen der Geschichte jedoch nicht an die klassische Handlungsabfolge gehalten, sie hat sie tüchtig durchgeschüttelt, indem sie dem Publikum einen Teil der Verantwortung für die Reihung an bzw. in die Hand gegeben hat. Und das ging so:
Eine schrille Frauenstimme unter lilafarbener Lamettaperücke verkündet, insgesamt zwölf Briefumschläge zusammen mit der Durchnummerierung von eins bis zwölf würden an die Zuschauenden verteilt – wer will mitmachen? Das Pikante ist: die Nummern sind nicht jedes Mal an die selbe Szene gekoppelt, so dass die Nr. 3 beispielsweise einmal zur Szene „Unschuld“, beim anderen Mal jedoch zur Szene mit der Bezeichnung „Herzscheiß“, „Geier“ oder „Verlieben“, „Das schwarze Haar“ oder „Ficken“ gehören kann. Das heißt, die Darsteller wissen zu Beginn des Theaterabends nicht einmal annähernd, wie heute die Abfolge ihres Auftritts aussehen wird, einzig Prolog und Epilog, also Eingangs- und Schlussbild, verbleiben an ihrer traditionellen Stelle. In dieser Inszenierung gleichen sie sich im Übrigen auf’s Haar, auch ein interessanter Einfall: die Zuschauer wissen also bereits zu Beginn, wie das Ende aussehen wird.
Faszinierend an dieser Regie-Idee ist, dass die direkte Schussfahrt eines Menschen ins Elend durchaus verschiedene Stationen haben kann, die in der Abfolge jedoch völlig unwesentlich sind: Kommt zuerst die Untreue Maries, danach das Sadismus des Vorgesetzten, die Menschenverachtung des Experimentier-Mediziners und am Ende der höhnische Sieg des Tambourmajors – oder wäre folgende Reihenfolge richtig und konsequent: zuerst der quälerische Vorgesetzte, dann der unmenschliche Arzt und zuletzt das Fremdgehen Maries? Die existenzielle Frage: Was kann, was muss ein Mensch aushalten, ehe er irre wird? ist von der Reihung der Ereignisse am Ende wohl unabhängig, die Summe der Verletzungen, der Entwürdigung, der Hoffnungslosigkeit ist es, die zum finalen Unglück führt – oder führen kann.
Die Versuchsanordnung zu diesem Theaterklassiker war nur ein Teil des Erfolges. Der andere ebenso wesentliche Teil lag in den Händen, Körpern, der Mimik und den Stimmen aller Schauspielerinnen und Schauspieler. Da war beispielsweise nicht nur die exaltierte, hysterisch haspelnde Darstellerin, die eingangs Nummern und Szenentitel vergab und dabei mit dem schon erwähnten lila Lamettakopf wippte, später sprudelte sie über vom Wissensschwall über die Erbse als biologisches und ökotrophologisches Phänomen, das parallel zu ihrem Informationsfluss dem armen Versuchskaninchen Woyzeck aus immer neuen Dosen vom Arzt auf den erbärmlichen Teller geschüttet wurde. Und diese Hysterikerin stellte mit ebensolcher Überzeugungskraft eine stille, in sich oder schon abgekehrte Marie dar. Grandios auch der Darsteller des Franz Woyzeck! Welche Qual sein Gesicht darzustellen vermochte bei einer dabei sehr reduzierten Gestik – das war große Bühnenkunst! Die unaffektierte, sehr ruhige aber trotzdem aufwühlende Stimme gaben seiner Figur eine unglaubliche Eindringlichkeit. Einen besonderen Kick bot die Szene, sinnigerweise mit „Ficken“ überschrieben, in der ein gestisch und akustisch höchst eindrucksvoller Beischlaf gespielt wurde – Harry und Sally lassen müde grüßen!
Wieder ein großer Theaterabend in unserer kleinen Studiobühne!
Siggi Richter