10 Probentage für die Inszenierung von Schneewittchen
08. März 2018
Insgesamt 2 Wochen = 10 Tage Zeit, das Stück einzuüben
9 Mitspielende, neue Auszubildende an der Schauspielschule, seit 5 Monaten aktiv.
Schneewittchen – kennen wir alle. Das ist die mit der perfekten Schönheit: Haare, so schwarz wie Ebenholz, Haut so weiß wie Schnee und Lippen blutrot und prall. Augenfarbe unbekannt, aber sehr wahrscheinlich kornblumen- oder veilchenblau mit langen schwarzen und geschwungenen Wimpern. Dagegen die Stiefmutter, deren Schönsein verblüht und den Höhepunkt überschritten hat. Neid, Totschlag- und Mordversuche, Kannibalismus, Flucht in den Wald, dort Rettung durch 7 Zwerge. Zwischenzeitlich Koma, aber Happy End mit Folterstrafe.
In einer 10-Minuten- Probenpause kurze Zwischenbilanz des 2. Probentages:
Der Regisseur - René, (R)) - fordert: Pünktlichkeit („wir können es uns nicht leisten, erst ganz langsam warm zu werden“), Konzentration („seid präsent!“) und Disziplin („lasst nichts Unnötiges auf der Bühne rumliegen, Stolpergefahr, Ablenkung etc.“). „Wie geht es Euch gerade?“ „Ich find es schön, geradezu magisch!“ „Wo hängt/steht der Spiegel? Können wir noch nicht entscheiden, behalten wir aber im Hinterkopf.“
Geprobt wird die Hochzeitsfestszene des Königs und seiner neuen Frau, Schneewittchens Stiefmutter. Die 1. Königin ist zuvor als Scherenschnitt in ansteigendem Rot, der Blutlache gestorben. Die Neue beendet das Fest auf rabiate Art und schmeißt alle raus. Keine Konkurrenz, keine Fröhlichkeit und Schönheit, die nicht von ihr selbst ausgeht.
Schneewittchens Entwicklung soll gezeigt werden: aus dem kleinen Mädchen wird eine junge Frau. Welche Stationen zeigen das Heranwachsen? Hofetikette, Versteck- und anderes Spielen, die 1. Zigarette, Frösche-Küssen etc.
R. fordert die Schauspielschüler/innen auf, selbst Ideen und deren Umsetzung zu entwerfen.
Analyse-Gespräch mit R.: „Dieses Märchen ist keine Geschichte nur für Kinder. Wir haben hier eine 3-gliedrige Hierarchie: Oben die Royalen, in der Mitte die Zwerge = „der kleine Mann“ (Kleiner Mann, was nun?), sprich, die arbeitende Bevölkerung und ganz unten die zu ihnen kommende Frau, Schneewittchen, der nichts anderes geboten wird als klassische Frauenarbeit: Kochen, Putzen, Aufräumen. Sie sitzt trotz blauen Blutes in der gesellschaftlichen Talsohle als Frau. Selbst nach einigen Mordanschlägen durch die Stiefmutter bleibt kein einziger Zwerg zu Hause, um sie zu beschützen, ihr wird lediglich der billige Rat gegeben, nur ja gut aufzupassen und niemanden hereinzulassen!“
Schneewittchen ist von zu Hause, aus dem Schloss, geflohen und nun allein im unheimlichen Wald, nachts. Mi Hilfe eines Projektors und entsprechend gehaltenen Ahorn- und Kieferzweigen in unterschiedlichem Zwielicht, dazu 2 bewegte Taschenlampen von den Bühnenseiten, entsteht mit sachten Bewegungen die gespenstische Atmosphäre eines Märchenwaldes, begleitet von magischen Tönen mehrerer Instrumente (u.a. eine Ocarina, exotisches Blasinstrument, das einer kleinen Gurke ähnelt und aus Keramik gefertigt ist) – R: „Die Ocarina ist mir noch zu weltlich, sie muss sphärischer werden, ich weiß gerade nicht – wie“. Schneewittchen, immer noch in der straffen Haltung einer Königstochter, stolpert (auf der Stelle, so klein ist die Studiobühne!), strauchelt, fällt, ist außer Atem und verzweifelt, traut sich endlich trotz adliger Attitüde zu weinen. Wiederholung 6 Mal.
Derweil wird in Blitzesschnelle (R: „19 Sekunden sind zu lang! Wir dürfen nicht mehr als die Hälfte dafür aufwenden!“) eine unsichtbar stabilisierte Strohmatte aufgebaut. Nach 5maligem Probieren stimmt’s. R: „10 Sekunden, nochmalige Wiederholung, unter erschwerten Lichtbedingungen!“ Die Strohmatte wird das Zwergenhaus. R: „Da kommen dann noch karierte Gardinen rein und klitzekleine Blumenkästchen – wie für richtige Zwerge!“ Fragen nach dem Wie und Wohin beantwortet R. mit: „So, wie ihr es wollt! Macht einfach!“
Ein Lehrstück der besonderen Art: Schneewittchen zögert sowohl in ihrer Körperhaltung wie auch anschließend in ihrer Stimmlage: soll sie in das unbekannte Häuschen reingehen? R: „Hier erlebt ihr eine geradezu lehrbuchhafte Doppelung. Nach dem Zögern in der Haltung muss jetzt Entschlusskraft in der Tonlage folgen, sonst wird es langweilig. Der Modus muss sich ändern, vorangehen, oder wollten wir auf der Stelle treten? NEIN. Hier wurde euch sehr präzise ein Fehler vorgeführt. Auch sehr gut, so lernt ihr es.“
R: „15 Minuten Pause!“ – mit gebrachten Tee oder frisch gebrühten Cappuccino trinken, Handy checken, Xylophon spielen.
2. Mal, der 7. Probentag
Ich: „Passt es jetzt jetzt?
R: Nein, es passt nicht so gut, wir bauen gerade den gläsernen Sarg.
Ich: Auch wieder in 10 Sekunden?
R: Klar, wenn’s geht, noch schneller!
Ich: Aha. Tschö. Bis übermorgen.
R.: Das ist gut, da spielen wir das ganze Stück durch.“
3. Mal, der 9. Probentag, die Generalprobe vor der morgigen Generalprobe.
Das Märchen beginnt wie jedes ordentliche Märchen mit den Worten: „Es war einmal..“ Die Erzählerin, eine junge Schauspielschülerin mit bereits jetzt exzellenter Sprache, Stimme und Betonung tritt hervor und beginnt. Ich sehe jetzt erstmals das ganze Stück, erkenne, wie die Gedankenversatzstücke bei der ersten Probe nun ihre Form angenommen haben. Das Heranwachsen des kleinen Schneewittchens artikuliert sich über Laufen Lernen, Bobbycar Fahren, Teenager-Aufsässigkeit, coole Sonnenbrille und Etikette (Buch auf dem Kopf, graziöses Gehen übend). Die Schattenspiele sind noch intensiver geworden, geradezu gewaltig das mordlüsterne Herz der ja herzlosen Königin als blutrotes Feld mit tödlichen Messerspitzen. Die Königin-Stiefmutter agiert über das ganze Stück hinweg ausschließlich als überlebensgroßer Schattenriss. Die eine oder andere dramatische Wutgebärde dieser Person wird bis zur Premiere sicher noch präzisiert werden.
Neu für mich der Auftritt der 7 Zwerge. 7 Zipfelmützen, ja. Aber Anzüge und Hartschalen-Aktenkoffer? O.k. Schwer gestresste Arbeitnehmer, Goldgräber, die geschlaucht nach Hause kommen und erst mal Fitness brauchen, um einigermaßen an- und runterzukommen. Wunderhübsches, possierliches Zwergenballett! Und selbst kleine Versprecher stören bei der putzigen Truppe nicht.
An diesem Probentag ist zufällig Internationaler Frauentag, der 8. März. Da zucken dann doch die feministischen Ohren gewaltig, wenn das süße Schneewittchen lächelnd singt:
„Putzen, Kochen, Saubermachen –
Darum änder‘ ich mein Kleid, (sie trägt noch immer ihre Prinzessinnenrobe),
Denn ich stell um auf Hausarbeit..“ (bindet sich eine Küchenschürze um)
Herrlich dümmlich und egozentrisch die Zwerge (Männer), die bei allen 3 Mordversuchen (Luft abschnürender Gürtel, jeweils vergifteter Kamm und Apfel) der bösen Stiefmutter niemals merken, dass Schneewittchen nicht nur von der schweren Hausarbeit erschöpft ausruht („und wo bleibt das Abendessen für uns arme Arbeitsmänner?“), sondern dass sie kurz vorm Exitus aus dem Fenster hängt. Selbst angesichts von Mord und Attentat fällt dem Einen nur auf, „wie schön sie ist, sogar von hinten!“, dem Anderen, dass er ab jetzt sein Müsli wohl allein anrühren muss. Tumb - aber irgendwie auch herzig (wie manchmal im richtigen Leben halt).
Schneewittchens gläserner Sarg – wundervoll konstruiert wiederum als Schatten-Kontur-Bild. Langsam senkt er sich auf das schöne leblose junge Mädchen, ebenso langsam hebt er sich, als das märchenübliche Auftauchen eines Königssohns das komatöse Elend beendet. Zum Schluss noch das Riesengezeter der gemeinen Stiefmutter, ihr Todestanz in glühenden Pantoffeln – ebenfalls einzig symbolisiert durch Lichtspiele.
R.: „Pause jetzt, 10 Minuten. Danach bis 14 Uhr noch einmal einen kompletten Durchlauf. Am Nachmittag wahrscheinlich noch mindestens 1 Mal, dann sehen wir weiter!“ Nicht nur die Zwerge werden bei der letzten Probe dieses Tages ihre abendliche Erschöpfung nicht mehr nur simulieren müssen – da bin ich mir ganz sicher – sie alle werden wirklich fertig sein.
Als Kind hätte ich dieses Spektakel geliebt: es geht zügig, voller Witz, Temperament und verrückten Ideen über die Bühne, hat große Spannung und ein glückliches Ende, sehe ich mal vom Foltertod der Stiefmutter ab. Aber – gerechte Strafe? Heute sind wir weiter, Gefängnis und anschließend soziale Integrationsmaßnahmen wären angesagt.
Als Erwachsene hab ich mindestens ebenso viel Spaß gehabt – s.o. – denn zwischen den Zeilen verbirgt sich Brisantes.
von Siggi Richter