Studienfahrt 2018 nach Hamburg
22. April 2018
Das Dreigroschen-Tagebuch von Absolvent Reyniel Osterman
Ich habe unglaublich viele Namen in unglaublich vielen Sprachen, man findet mich an so ziemlich jedem Fleck auf dieser Erde in den verschiedensten Formen, Größen und Facetten. Immer und überall, egal wie ich gerade aussehe, wie schwer ich bin, wie viel es von mir gibt - mit mir bekommt man die Dinge, die man braucht und vor allem: Die Dinge, die man haben will. Selbst musisch veranlagte Querköpfe, kreative Romantiker und Vollblut-Kommunisten kommen ohne mich so schnell erst mal nirgendwo hin. Ich will mich jetzt wirklich nicht aufspielen, aber man könnte sagen, dass ich von allen eigentlich unwichtigen Dingen, das mit Abstand Wichtigste überhaupt bin. Ich bin das Mittel zum Zweck. Wohl nicht ganz drei Dutzend abenteuerlustige Siegburger Schauspiellehrlinge nahmen mich und warfen mich in einen Topf, um diesen dann über der Stadt auszukippen, die dafür bekannt ist, nur so mit mir herumzuwerfen, wenn es um Kunst und Kultur geht. Den größten Teil des Topfinhaltes schluckte natürlich das Wohnen. Ein recht ansehnliches Hostel schützte diese wissbegierigen jungen Menschen, die mich mit Sicherheit alle noch lieben lernen werden, vor Wind und Wetter. Es ist schon bemerkenswert, was man alles mitbekommt, wenn man überall zugleich ist, in jeder Hosentasche, in jedem Nachtschrank, verloren auf der Straße...; eher langweilig ist es in diesen öden Safes rumzuliegen, aber wenn man erst mal ins Wandern kommt – HALELUJAH ! In der Zeit vom 9. bis zum 13. April des Jahres 2018 zog ein großer Teil meiner allgegenwärtigen Aufmerksamkeit, diese in jener hübschen Hansestadt herumwütenden Schauspieler, an. Ich rollte förmlich in Theater und Opernkassen (hiermit sei der Zweitgrößte Topfentleerungspunkt angesprochen).
Montag, der 09.04.18 (ThaliaTheater/ Die Dreigroschen-Oper/ Regie:Antú Romero Nunes)
Erstaunlicherweise hatte ich ziemlichen Spaß. Da war zum Beispiel einer, der stellte sich im Thalia-Theater auf die Bühne und klappte die Hände auseinander. Später sang und redete der auch recht viel – sein Name war wohl irgendwas mit Pfirsich und dann kam noch ein Giftzwerg dazu, der eine Stimme hatte – das war zum dahinflattern! Der Zwerg war die Hauptperson und der stand auf eine Prostituierte mit dem Namen Jenny und als die auftrat, wünschte ich mir, auf die Bühne geworfen zu werden. Das mit dem Pferd am Ende gab dann im Nachhinein eine Riesendiskussion.
Ich habe mich an diesem Montagabend die ganze Zeit auf so eine unterschwellige Art und Weise angesprochen gefühlt, sogar leicht kritisiert, wenn nicht sogar auf die Schippe genommen – aber warum genau, kann ich nicht sagen.
Dienstag, der 10.04.18 (Ernst Deutsch Theater/ Wunschkinder/ Regie: Hartmut Uhlemann)
Die Reeperbahn lechzt geradezu nach mir. Ich habe nicht das Gefühl, dass die jungen Siegburger Künstler mit mir geizen. Für zweitklassige Burger und überteuerte Cocktails lassen sie mich liegen, anstatt sich um Ihre Bausparverträge zu kümmern! Heute Abend hat es mir besonders gefallen. Die Schauspieler hatten ganz ersichtlich nicht besonders viel Spaß an dem was sie taten und zugegebener Maßen, der Text war ja auch recht eindimensional, die kranke Hauptdarstellerin wurde von einer Dame mit Textblatt in der Hand vertreten und das Publikum hat sich teilweise furchtbar benommen – diese Siegburger können ganz schöne Rüpel sein, aber.... ABER - und das war eine wichtige Lektion für mich: Die Schauspieler haben trotzdem bis zum Ende ganz wacker durchgehalten und man hat sie immer gut verstanden. Und ich glaube, dass sie das vor allem wegen mir taten! Das macht mich schon ein bisschen stolz.
Mittwoch, der 11.04.18 (Staatsoper Hamburg/ Aida/ Regie: Guy Joosten)
Ich will nicht wissen wie viele Hundertschaften von Töpfen mit mir gefüllt, über das ausgekippt worden sein mussten, was sich an diesem Abend vor mir abspielte. Allein dieses Bühnenbild. In einem scheinbar endlos tiefen Grab stehen Star-Opernsänger, Statisten und eine karamellfarbene, leicht pummelige Frau die so heißt wie ein Kreuzfahrtschiff. Die Zuschauer können gar nicht so viel von mir mitgebracht haben, als das es gereicht hätte, diesen pompösen Abend zu gestalten.
Donnerstag, der 12.04.18 (Deutsches Schauspielhaus Hamburg/ Der gewissenlose Mörder Hasse Karlsson/ Regie: Isabel Osthues)
Für Museumsbesuche lass ich mich natürlich gerne hergeben. Das trägt meistens ganz ansehnliche Früchte, wenn man mich in Bildung investiert. Und wenn die dann auch noch Spaß macht, dann fühl ich mich so richtig nützlich. Die Art von Bildung, die diese schöne Speicherstadt hergibt, scheint auf alle Fälle Spaß zu machen. So zumindest spiegelten mir das meine werten Ausgeber, wenn sie plötzlich in einem Miniatur-Wunderland standen oder von den exotischsten Gewürz-Mischungen umgeben waren. Und jetzt kommt der absolute Höhepunkt unter meinen Erlebnissen mit den Siegburger Schauspielern: Ein Theaterstück, in dem ich selbst mit spielte. Ist das zu fassen? Stell sich das mal einer vor: Man hockt in irgendeiner offenen Hosentasche oder dümpelt in einem nicht verschlossenen Rucksack im Theater herum und merkt, dass man, ohne davon vorher nur die geringste Ahnung gehabt zu haben, das leitende und bisweilen auch zerstörende Element auf der Bühne ist. Es rührte mich zu Tränen, dass mir eine reife Frau ihr Leben lang ihre Liebe schenkte, mit der Aussicht darauf, irgendwann einmal auf einem Schiff zu stehen, nur um dann fest zu stellen, dass ich eines Tages einfach weg bin. Spurlos verschwunden. Gestohlen. Insgeheim liebe ich es gestohlen zu werden – das ist immer so unglaublich spannend.
Dieser verdammte Donnerstag wollte nach diesem aufregenden Theater-Vormittag immer noch nicht von mir lassen! Am Abend war wieder ein Theaterstück mit mir in der Hauptrolle geplant, dass dann aber nicht statt fand und wer es meistens der Schuldige, wenn etwas zuvor Geplantes nicht stattfindet (ganz gleich ob Zugfahrt, Bahnhofbau oder Entertainment-Event)? Ich natürlich!
Freitag, der 13.04.18
Ein Tag des Packens, des Aufbruchs und des Feststellens wie viel von mir doch für Kaffee, Krabbenbrötchen und Co. auf der Strecke geblieben ist. Hier muss noch erwähnt werden, dass die öffentlichen Verkehrsmittel in der Stadt mit H äußerst gnadenvoll mit meinen vorläufigen Besitzern umgehen. Daran könnten sich ein paar andere Metropolen mal ein Beispiel nehmen.
Diese aufreibenden 5 Tage mit der Studiobühne Siegburg werde ich so schnell nicht vergessen. Ich bin durch diese kleine Reise voller Kultur und Selbsterkenntnisse ein wenig ins Nachdenken gekommen. Es steht außer Frage: Ich bin fast allgegenwärtig. Ich bin nicht aus Fleisch und Blut. Jeder kennt mich, jeder braucht mich, fast jeder liebt und schätzt mich, manche hassen mich. Viele leiden unter mir; ich bin verantwortlich für Krisen und Katastrophen, vollbringe aber auch Wunder und kann die Menschen glücklich machen. Oft bin ich die Errettung in der Not und die Not zugleich. Gebäude, Parks, ganze Siedlungen und Städte wurden durch mich geschaffen. Durch mich entstehen auch die schlimmsten Bluttaten und Kriege. Die einen sehen mich so – die anderen eben anders – und doch bin ich im Grunde immer das Gleiche. Mit mir kann man sogar Vergebung erlangen und Ereignisse schier ungeschehen machen. Ich bin nur da, weil alle auf ihre Art und Weise an mich glauben. Bin ich so etwas wie Gott?