Ballett ist nicht sein Lieblingsfach
Kölner Stadt-Anzeiger vom 08. März 2012
SIEGBURG/TROISDORF: Selbstbewusst betritt Jonas Herkenhoff die Bühne der Schauspielschule Siegburg. Ein halbes Jahr ist seine Aufnahmeprüfung nun her, über die wir berichtet haben. Heute freut sich Jonas auf den Unterricht mit René Böttcher, dem Leiter der Schule. Als Aufwärmübung soll er auf Zuruf Berufe und Tiere darstellen.
Der 19-jährige Jungschauspieler braucht dabei kaum Zeit zum Nachdenken. "Ich will eure ganze Phantasie sehen", fordert Böttcher. Den Schülern fällt es oft schwer, Dinge nicht nur zu denken, sondern auch darzustellen, die im normalen Leben ausschließlich im Kopf ablaufen. Doch Jonas hat einen großen Vorteil: Er und seine Mitschülerin Julia Stiller sind die Einzigen in diesem Jahrgang und werden individuell betreut. Mit drei Schülern war die Gruppe ohnehin schon klein, dann ist eine Schülerin auch noch abgesprungen. Letztes Jahr habe es eine regelrechte Bewerberflaute gegeben, erklärt der Leiter der Schauspielschule. Das bekam auch Jonas hautnah mit, als er bei seinem ersten Vorsprech-Workshop als einziger Bewerber antrat. Was Böttcher als "kleine Katastrophe" wertet, weil die Schule ausschließlich aus den Beiträgen der Schüler finanziert wird, ist für Jonas purer Luxus. "Es ist fast wie Einzelunterricht. Ich kann hier wirklich sehr viel lernen und die Dozenten gehen ganz speziell auf mich ein", freut er sich. Derzeit sind insgesamt nur 20 Schüler auf der Schauspielschule.
Jonas hatte durchaus schon eine Sinnkrise und fragte sich ernsthaft, ob dies das Richtige für ihn sei. Doch Böttcher ist begeistert von seinem Schützling und ist sich sicher, dass dies genau der richtige Weg für Jonas ist. "Er ist super dabei! Diese Mischung aus Intelligenz und Sensibilität, die er mitbringt, ist einfach faszinierend", sagt er stolz. Jonas' Körper sei sehr weich und formbar, zudem sei er uneitel und schlüpfe leicht in hässliche oder ungemütliche Rollen.
Dies beweist er auch heute: Julia spielt eine Vermieterin und Jonas soll so spielen, als müsse er ganz dringend auf die Toilette. Gleichzeitig soll er aber so interessiert wie möglich wirken, um die Wohnung zu bekommen. Julia öffnet die Tür und herein tritt ein völlig verwandelter Jonas. Er steht gekrümmt und mit zusammengekniffenen Beinen am Türrahmen. Schleppt sich von einem Möbelstück zum nächsten und gibt sonderbare Laute von sich. Aber es wirkt! "Hier sollen die Schüler ein Gefühl dafür bekommen, wie sie auf der Bühne denken müssen, wie groß alles sein muss", erklärt Böttcher.
Die Kritik, die der Dozent immer wieder einwirft, nimmt Jonas dankbar auf. Er identifiziert sich immer mehr mit der Rolle und die fiktive Person wirkt zum Schluss lebendig und glaubhaft.
Auf dem Stundenplan der beiden findet sich neben dem Schauspielunterricht, Musik, Gesang, Mimetik, Sprechunterricht, moderner Tanz und Ballett. Nach seinen ersten Erfahrung mit dem klassischen Tanz war Jonas wenig begeistert. Doch er muss sich damit abfinden. Einmal in der Woche geht es in den Ballettsaal und in den Freistunden übt er mit Julia zusammen. Doch ganz glücklich scheint er immer noch nicht zu sein. "Julia kriegt das Bein so hoch, wie schafft sie das nur? Ist sie aus Gummi? Ich sehe daneben aus wie ein Depp", sagt er selbstkritisch, als er sein Bein auf das Klavier legt, um sich zu dehnen. Seine Schwester hat acht Jahre Ballett gemacht, sie gibt ihm immer wieder Tipps. So klappt es von Stunde zu Stunde besser. "Muss es auch, immerhin machen wir im Sommer bei einem Tanzthater mit", erklärt Mitschülerin Julia.
Dass er Ballett macht, fanden seine Freunde anfangs genauso komisch wie er selbst. Aber mit der Zeit haben sie sich daran gewöhnt. Es gehört nun einfach dazu. Irgendwie scheint es ihm doch Spaß zu machen, in seiner Freistunde geht er immer wieder die Übungen durch. Doch auch die Stimme muss trainiert werden. Eine besonders trickige, aber hilfreiche Übung sind Zungenbrecher: In rasenden Tempo sprudeln die Wörter nur so über ihre Lippen. Die angehenden Schauspieler meistern schon so manchen komplizierten Satz, ohne sich zu versprechen. Das schult die Aussprache und die Merkfähigkeit, die Zungenbrecher sind inzwischen ihre ständigen Begleiter in freien Minuten.
"Als Schauspieler schlüpfen wir von der Opfer- in die Täterrolle. Wir werden aktiv und nichts passiert von nun an zufällig. Wir tun es mit allen Konsequenzen", sagt Jonas. "Das bedarf viel Körperbeherrschung und Übung." So haben die Schüler, wenn um 15.15 Uhr der Unterricht endet, noch einiges zu tun: Texte auswendig lernen, Sprechübungen machen und das Gelernte vom Tag noch wiederholen.
Zurzeit hat Jonas dennoch neben der Ausbildung noch genug Zeit für Fußball und seine Freunde, weil seine Eltern die monatlichen Schulgebühren von 400 Euro bezahlen. Doch schon bald will er sein eigenes Geld verdienen.
Von Lisa Meurer