Wir sind viele und reiten ohne Pferd
General-Anzeiger Bonn vom 28. Juni 2014
Das Drama der Flüchtlinge
Als am Donnerstagnachmittag vier Mädels mit Sonnenhut, Koffer, Handgepäck und einem Schlauchboot an der "Goldenen Ecke" in Siegburg auftauchten, blieben die Passanten stehen und schauten verwundert, wussten nicht so ganz, was sie davon halten sollten.
Dann verkündete das Quartett lauthals, es wolle flüchten, die Alpen überqueren, zum Mittelmeer, an Lampedusa vorbei geradewegs nach Afrika. Ein älterer Herr traute seinen Ohren nicht, schaute ungläubig und tippte sich an die Stirn: "Sind die bekloppt", fragte er. Eine etwa gleichaltrige Dame wollte gar wissen, "ob die Eltern damit einverstanden sind, was die da tun".
Nach und nach unterbrachen weitere Fußgänger ihren Bummel durch die Stadt, verfolgten mit offenen Mündern und fassungslos eine aberwitzige Aufführung der Schauspielschule Siegburg. Die Information, dass die vier jungen Frauen Schauspielerinnen seien, konnte sie zunächst nicht wirklich von ihrem Glauben abbringen, dass die "nicht ganz dicht sind", so ein Radfahrer, der aber dann doch - aus sicherer Entfernung - neugierig die surreal anmutende Szenerie beobachtete.
Lisa Hansmann, Lisa Büttner, Viktoria Kubitza und Cynthia Oblas hatten sich kein einfaches Stück für ihre Aufführung unter freiem Himmel ausgesucht, die zum Teil auf Martin Heckmanns Polit-Performance "Wir sind viele und reiten ohne Pferd" beruht und zum Teil um eigene Ideen und Beiträge ergänzt wurde.
Die vier spielen den Wutbürger, der in einer satten Konsumgesellschaft lebt, in der das Kapital das Sagen hat, in der das "Ich" vor dem "Wir" steht und der sich fragt: "Wie kann ich mich dagegen wehren?" "Wo muss Widerstand ansetzen?" Und: "Wie muss eine Bewegung vieler aussehen, die auch etwas verändern kann?"
Sie sind immer auf der Suche nach neuen Orientierungen, für die es sich zu leben und zu kämpfen lohnt. "Ich suche einen Sinn, den ich hier nicht finden kann", ruft eine der Protagonistinnen aus. "Ja, ich habe hier alles, aber ich verspüre täglich den Wunsch, zum nächsten Wasserloch zu laufen", beschreibt sie ihre Sehnsucht, Sinnvolles zu tun und einer Welt zu entkommen, bei der es nur um das "Mehr" geht: Mehr Geld, mehr Reichtum, mehr Wohnraum, mehr Urlaub. Und einer Welt, "wo du bist, was du kaufst - billig!".
Heckmanns Stück ist laut Verlag "ein Sprachkunststück über erste und letzte Spielräume politischer Bewegungen, ein hellsichtiger, komischer und hintergründiger Kommentar auf aktuelle Protest-Aktivitäten". Und so scheitern natürlich auch die Mädels mit ihren Idealen und Vorstellungen von einer gerechten Welt schon im Ansatz.
Wunderbar überzogen dargestellt durch den untauglichen Versuch, mit dem Paddelboot in der Fußgängerzone in See zu stechen, um das Ziel, Afrika, zu erreichen und dort einen Sinn zu finden.
Die Vorstellung gipfelte in dem ebenso zum Scheitern verurteilten Versuch, sich zu ertränken. Damit wiesen die Schauspiel-Eleven auf das Schicksal der Flüchtlinge aus Afrika hin, die ihr Glück in Europa gesucht haben und von wo aus sie in umgekehrter Richtung starten wollen.
Wahllos nennen sie Namen von einer Liste mit über 17 500 Flüchtlingen, vom Säugling bis zum Greis, die ihre Flucht seit 1995 bis heute mit dem Leben bezahlten, weil sie Lampedusa nicht mehr erreicht haben. Eine bewusste Situationskomik, bei der den Umstehenden das Lachen allerdings im Halse stecken blieb.
Bei den Zuschauern war mittlerweile der Groschen gefallen, was die Aufführung bezwecken wollte: Für einen Moment innezuhalten und über die eigene Situation in unserer Wohlstandsgesellschaft nachzudenken. Der Applaus klang fast befreiend.
Hinweis: Weitere Aufführungen des Theaterstücks in der Siegburger City: Samstag ab 11 Uhr und am 3. Juli ab 13 Uhr, jeweils an der Goldenen Ecke.
Von Paul Kieras