Die zehn Akteure spielten sich die Seele aus dem Leib in einer furiosen Revue
Kölner Stadt-Anzeiger vom 11. Oktober 2021
Furiose Revue sprengt alle Grenzen
Eine mentale Achterbahnfahrt wurde am Freitagabend in der Studiobühne Siegburg mit dem Stück "Balkongeflüster" von John von Düffels geboten. Das galt für die begeisterten Premieren-Besucher genauso wie für den Absolventenjahrgang der Schauspielschule Siegburg. Die zehn Akteure spielten sich die Seele aus dem Leib in einer furiosen Revue, für die das Genre noch definiert werden muss.
Jedenfalls verlief die Suche nach einem halbwegs geordneten, geschweige denn schlüssigen Handlungsstrang erfolglos. Das störte kein bisschen und in Kenntnis dieses Umstands, der sich einem kurz nach dem Von-Null-auf-Hundert-Einstieg eröffnete, durfte sich entspannt zurückgelehnt und gefreut werden. Über Sprüche, die jeden Chauvi für lange Zeit mit erfolgversprechenden Gesprächseinstiegen versorgt hätten, wie "Dir zu genügen ist Leistungssport", "Ich versuche, für Dich kein Makel zu sein", "Ich werde immer auf die Person neidisch sein, die ich heute bin". Aber auch wuchtige Pointen und flirrende Wendungen im Halbminuten-Takt machten Spaß.
Die Welt im Kleinen
"Die Welt im Kleinen" sah Regisseur René Böttcher, der mit Maike Mielewski das Siegburger Kult-Theater leitet, in dem Balkon, auf dem die Turbulenzen tobten: "Keiner weiß warum er da ist, jeder möchte seine Probleme loswerden, niemand hört hin, niemand ist für irgendetwas verantwortlich." Auf dem Balkon, im kleinen Theater mit einem Rechteck aus vertikalen Neonleuchten dargestellt, treffen sich in beliebigen Zusammensetzungen die Gäste einer Party, die weder Gastgeber noch Anlass kennt.
In mehr oder weniger schneller Abfolge kommen sie aus dem hinter Fransen-Vorhängen verborgenen Partyraum zum Vorschein, stolpernd, stürzend, kriechend, sich übergebend. Die Politikerin, die mit Worthülsen um sich schmeißt, der Kellner, der nie weiß wer was wann bestellt hat, dafür aber zaubern kann wie Houdini. Dann der Macho, der einem Modell für seine Schaufensterpuppen-Entwürfe nachjagt oder der völlig Abwesende, der Janis Joplins "Mercedes-Benz" fernsehreif in den Raum quetscht oder im klangvollen Falsett den "hellgelben Weizen in der Sonne" besingt.
Das Ensemble wird am meisten Freude gehabt haben am Spiel. Nicht oft dürften die Schauspielerinnen und Schauspieler die Gelegenheit haben, sich auf der Bühne derart hemmungslos auszutoben. Wenngleich sie ihre Präzision, mit der sie die Veitstänze ablieferten und ihre Pointen abschossen, keine Sekunde verloren.
Die facettenreiche Mimik und Gestik jedes und jeder einzelnen, die rassigen Choreographien der Clubtanz-Szenen und die schummrig eingeblendeten Videosequenzen von knutschenden, in Sexgespräche vertieften Comic-Goldfische waren zusätzliche i-Tüpfelchen. Großes, irres Slapstick Kino.
von Peter Lorber