Die Inszenierung von Sarah Kortmann überzeugt auf ganzer Linie
General-Anzeiger Bonn vom 06. Februar 2017
Sarah Kortmann inszeniert „Woyzeck“ in der Studiobühne
Sarah Kortmann inszeniert „Woyzeck“ in der Studiobühne 06.02.2017 SIEGBURG. Warum tötete der Soldat Franz Woyzeck die Frau, die er über alles liebte? Das erfährt der Zuschauer in der Siegburger Studiobühne in einzelnen rückblickenden Szenen. Gast-Regisseurin Sarah Kortmann hat das Stück inszeniert, die Darsteller sind Schüler der Schauspielschule Siegburg.
Zärtlich blickt er seine Geliebte Marie an, nimmt sie in den Arm. „Was du heiße Lippen hast! Heiß, heißen Hurenatem! Und doch möcht' ich den Himmel geben, sie noch einmal zu küssen. Friert's dich? Wenn man kalt is, so friert man nicht mehr. Du wirst vom Morgentau nicht frieren.“ Dann sticht er mit einem Messer so lange zu, bis sie tot zu Boden sinkt. Der Soldat Franz Woyzeck ist zum Mörder geworden.
Mit dieser Szene beginnt Georg Büchners Drama „Woyzeck“, das am Freitag in der Studiobühne Premiere feierte und mit dieser Szene endet es auch.
Warum Franz zum Mörder wurde erfährt der Zuschauer in einzelnen rückblickenden Szenen. Da wird klar, dass der Mord an Marie, mit der er ein gemeinsames Kind hat, nicht allein aus Eifersucht geschah, weil sie ihn mit einem Tambourmajor betrog.
Büchners Stück ist ein Fragment. Es gibt keine vorgegebene Reihenfolge der einzelnen Szenen, sie sind weder nummeriert noch in Akte aufgeteilt. Diese Fragmentierung macht Kortmann sich zunutze. Die rückwärts verlaufende Handlung ist nicht fix, sondern entwickelt sich jeden Abend neu, da der Zuschauer Einfluss auf die Abfolge der Bühnengeschehnisse nimmt. Der Text und die einzelnen Szenen sind festgelegt. Da die Reihenfolge aber erst während der Aufführung bestimmt wird, ändert sich jedes Mal die Dramaturgie. Maries Untreue ist nicht die Ursache für den Mord, sondern der Auslöser. Indem er seine Geliebte tötet, folgt er nicht mehr der gesellschaftlichen Diktatur.
Es ist für ihn ein Akt der Befreiung von den Verantwortlichen seiner Unterdrückung und Vereinnahmung. Woyzeck leidet an einer durch Stress bedingten Psychose, hört Stimmen und hat Wahnvorstellungen. Er muss mehrere Nebentätigkeiten ausüben, um seine Familie ernähren zu können. Sein bescheidener Soldatensold reicht dafür nicht aus. So rasiert er regelmäßig seinen Hauptmann und nimmt an Experimenten des Doktors teil. Aktuell ernährt er sich ausschließlich von Erbsen, was eine zusätzliche Belastung für ihn bedeutet. Er wird krank, sein Puls wird schneller, sein Haar dünner und er kann den Urin nicht einhalten. Der sadistisch veranlagte Doktor lässt keine Gelegenheit aus, ihn zu demütigen und stellt ihn noch unter die Stufe eines Labortiers. Das mindert sein Selbstwertgefühl ebenso wie die menschliche Herabsetzung des Hauptmanns, der Woyzeck mit Blick auf dessen uneheliches Kind wegen seines unmoralischen Lebenswandels kritisiert. Eine weitere Erniedrigung bringt ihm der Tambourmajor bei, der ihn beim Ringkampf besiegt und ihm auch noch Marie wegnimmt.
Woyzeck wird durch die Gesellschaft zu der Verzweiflungstat getrieben. Hauptmann, Doktor und Tambourmajor, die ihn unwürdig bis zur Entmenschlichung behandeln, verkörpern die Oberschicht. Franz ist Täter und Opfer gleichzeitig. Die Inszenierung von Sarah Kortmann überzeugt auf ganzer Linie, die einzelnen Bilder veranschaulichen spannungsgeladen, voller Dynamik und nachvollziehbar, dass und wie es zur Katastrophe kommen konnte und musste. Die Schauspieler verkörpern die Figuren erschreckend authentisch und mit völliger Hingabe. Stellvertretend für die hervorragende Leistung aller Akteure steht Vanessa Stoll. In einer Szene, in der sie als Woyzeck mit starrem Blick tellerweise Erbsen in sich schaufelt, möchte man ihr zurufen: „Hör auf!“ Das Premierenpublikum war hingerissen und spendete minutenlang Applaus
Von Paul Kieras