Mal in Monologen, mal im Chor mit Sprechgesang sprechen die Akteure die Zukunftssorgen
Kölner Stadt-Anzeiger vom 25. September 2017
Wenn alles nur um das eine kreist
Siegburg - Die Mitte der Gesellschaft – um sie kreist nicht nur in Wahlkampfzeiten das Denken und Handeln politischer Parteien und ihrer Funktionäre. Die einen haben diese Mitte als ihre ureigene Wählerschaft erkannt und versuchen, ihr politische Botschaften schmackhaft zu machen.
Die anderen brauchen die Mitte der Gesellschaft, um sich bei der eigenen Positionsbestimmung abzugrenzen und wahlweise links oder rechts von ihr zu verorten. Doch wer oder was genau diese Mitte der Gesellschaft ist, bleibt meist unklar. Die Mitte der Gesellschaft ist ein begriffliches Phantom.
Dieses Phantom steht jetzt auch im Mittelpunkt der jüngsten Produktion der Studiobühne. Im Sprachkonzert „Die Mitte der Gesellschaft“ des 1969 geborenen Theaterregisseurs und Autors Marc Becker gehen die angehenden Absolventen der Siegburger Theaterschule der Mittelschicht auf den Grund oder sie versuchen es zumindest. Wer ist die Mittelschicht? Wo ist die Mittelschicht? Und vor allem : Gibt es die Mittelschicht überhaupt noch? Unter der Regie von Tobias M. Walter unternimmt das junge Ensemble – Friederike Baldin, Hannah Koslowski, Lukas Maurer, Jan Meier, Reyniel Ostermann, Robert Steffen, Vanessa Stoll und Lioba Pinn – eine rasante Annäherung an das Phänomen. Einige Eckdaten zur Identifizierung der Mittelschicht liefern die Statistiker: Zum Beispiel, dass ein heterosexuelles Mittelschicht-Paar im Durchschnitt 158-mal pro Jahr Geschlechtsverkehr hat, 1,37 Kinder zeugt und jeder Durchschnitts-Mittelschichtler 113,9 Liter Bier im Jahr trinkt.
Jenseits dieser Fakten werden die Schauspieler, die auf einer Bühne fast ohne Requisiten namenlose Individuen verkörpern, zum Sprachrohr dieser Mittelschicht, deren Ikone in der Siegburger Inszenierung Schlagersängerin Helene Fischer ist. Ihr Konterfei prangt auf den T-Shirts der Darsteller und als Pappfigur wacht sie auf einem Sockel gewissermaßen über dem knapp „Konzert“. Mal in Monologen, mal im Chor mit Sprechgesang sprechen die Akteure die Zukunftssorgen der Mittelschicht aus und ihre Angst vor dem sozialen Abstieg.
„Es muss was passieren“, ist sich ein Sprecher der Mittelschicht sicher. Doch er weiß nicht was. „Manchmal hat man noch so viel zu sagen, aber der Sinn ist alle“, ergänzt eine andere, die auf der Suche nach sich selbst ist, und ein Dritter läuft in wilder Rage über die Bühne mit dem verzweifelten Schrei „Hilfe, ich stagniere“ auf den Lippen. Nach eineinhalb ebenso anstrengenden wie unterhaltsamen Stunden lässt das Ensemble den Zuschauer amüsiert, verwirrt und ermattet zurück und schickt ihn mit der schwierigen Aufgabe nach Hause, sich über seine eigene Position in der Gesellschaft den Kopf zu zerbrechen.
„Die Mitte der Gesellschaft“ steht bei der Siegburger Studiobühne (Humperdinckstraße 27) erneut am 29. September, 14. Oktober, 24. November, 9. Dezember sowie am 12. und 26. Januar 2018 jeweils um 20 Uhr auf dem Spielplan.
von Peter Freitag