Tanztheater macht den Siegburger Bahnhof zur Bühne
Kölner Stadt-Anzeiger vom 26. Oktober 2016
Den Apfel der Begierde hat sie unters Volk geworfen. Sie hat Hass gesät, und die Menschen haben Krieg geerntet. Ihrer Wurzeln beraubt, „streifen sie durch die Lande auf der Suche nach einer neuen Heimat“.
Die griechische Mythologie ist der Ausgangspunkt einer Tanzperformance, die zur Rush Hour die Passanten im Untergeschoss des ICE-Bahnhofs aus ihrem Alltag reißt. Auf seiner Oud, einem arabischen Saiteninstrument, begleitete Ahmed Jada das Tanztheater von sechs Siegburger Schauspielschülerinnen.
Mit Trolleys, Aktenkoffern und Einkaufstaschen hetzen sie über den Bahnsteig der Stadtbahn und bleiben abrupt stehen angesichts des ungewöhnlichen Tanztheaters, mit dem sechs Schauspielschülerinnen der Studiobühne auf das Schicksal der Flüchtlinge aufmerksam machen: subtil, zynisch, ironisch, poetisch – vor allem erschreckend realistisch.
Als mahnende Kulisse steht das einem Schiffswrack nachempfundene Kunstobjekt aus Treibholz vom Rheinufer, als der fiktive Schleuser „ein Luxusschiff für eine Million Euro“ verheißt und im Rap-Rhythmus verspricht: „In Deutschland ist es nicht schwer, sein Geld zu vermehr’n.“ Unterdessen formiert sich die Gruppe zum Gesangverein und trällert in Abwandlung eines Volkslieds fröhlich „Flüchtling, Flüchtling, du musst wandern, oh wie schön, oh wie schön“.
Auf der Oud, einem arabischen Saiteninstrument, begleitet Ahmed Jada diesen ironischen Chor. Doch vermummte Gesichter, in Schwarz gekleidete Gestalten und der Marschrhythmus von Jadas Trommel vertreiben die Fröhlichkeit und machen die Bedrohung präsent. Assoziationen an stampfende Militärstiefel und Stockschläge werden geweckt, bis eine junge Frau verzweifelt Gott anruft: „Wo bist Du? Ich brauche Dich so sehr!“ Blind gegenüber der Schicksale von Flüchtlingen? Viele Fragen warf das Kunstprojekt „Im Namen der Wellen“ auf.
Eine Antwort gibt es nicht und kann es nicht geben. Dafür aber Fragen über Fragen. Mit denen sind die Wände im zum Kunstraum umfunktionierten Ladenlokal auf dem Bahnsteig mittlerweile tapeziert. „Warum wisst ihr nichts über Syrien?“, „Warum fühle ich mich von 20 Prozent der Menschen schlecht behandelt?“ „Warum fühlt ihr euch von uns gestört?“, und „Wann dürfen wir Ruhe finden?“ steht in großen Lettern an den Wänden: Fragen, die bei mehreren interaktiven Performances mit Flüchtlingen aus der Siegburger Notunterkunft den Passanten auf dem Bahnhof und in der Stadt gestellt wurden, und umgekehrt Fragen der Zaungäste an die Geflohenen, etwa: „Warum habt ihr eure Familien verlassen?“
Das Warum vereint die Geflohenen mit den Einheimischen und die Ahnung, dass Eris „die Schwester des Krieges“ ist, wie in dem Ladenlokal zu lesen ist. Der Texter, Philip Apostolidis, ist der Vater von Marguerite Apostolidis.
Die Bonner Künstlerin (35) hat das Kunstprojekt „Im Namen der Wellen“ für den Königswinterer Kunstverein „Antiform“ entwickelt und als Beitrag zur Siegburger Programmreihe „Angekommen“ mit vielen Helfern verwirklicht. Die Reihe ist zwar zu Ende, doch verspricht die Künstlerin einen Nachschlag.
Im November soll die Rauminstallation mit dem Schiffswrack ins Stadtmuseum wandern. Am Samstag, 12. November, 13 Uhr, geht dort eine weitere Performance – wiederum mit Flüchtlingen aus der Notunterkunft – über die Bühne.
Man darf gespannt sein, denn das Tanztheater im Bahnhof dürfte jedenfalls manchen Passanten derart fasziniert haben, dass er den Zug verpasst hat.
Von Günter Willscheid